Ein Essay über Bewegung

Einen treffenden Essay zur 'Modernen Bewegung' aus der "Welt am Sonntag", hier im Wortlaut wiedergegeben:
21. OKTOBER 2012                                                                                          WELTAMSONNTAG   NR.43
Das Leben ist ein Trimm dich - Pfad
 

Der moderne Mensch hat es verlernt, sich zu bewegen, meint Hajo Schumacher. Dabei ist ein bisschen Ertüchtigung Balsam für Körper und Seele. Eine Wissenschaft muss man gewiss nicht daraus machen.

Deutschland ist geteilt in Sixpacks am oder im Bauch. Bewegen ist Religion oder Inquisition. Normal ist sie nicht.

Regelmäßige Bewegung, so ergeben wöchentlich neue Studien, ist ein wahres Wundermittel, bei Übergewicht und Kreislauf-beschwerden, Rekonvaleszenz und Bildungsförderung. Warum nur ist es so schwer, diese uralte Kulturtechnik in unser hektisches Leben einzubauen?  Zu den spannendsten Experimenten des Alltags gehört die Rolltreppenstudie. Ob in U-Bahn oder Kaufhaus, Bahnhof oder Flughafen, überall dasselbe Phänomen: Menschen reihen sich artig in Warteschlangen ein, um in den Genuss elektrischer Fortbewegung zu kommen. Nur die verwegensten Zeitgenossen wissen jene kantigen Dinger gleich daneben zu benutzen, sogenannte Treppenstufen. Dass der Steiger fast immer schneller ist, wird von den sonst auf maximale Effizienz versessenen Fahrern tapfer ignoriert. Dafür rast der moderne Mensch abends mit dem SUV in die Tiefgarage, um mit dem Aufzug ins Fitnessstudio zu fahren, wo eine harte halbe Stunde auf dem Stepper geschuftet wird, in atmungsaktivem Spezialoutfit mit textiler Kompression.
Eine humane Selbstverständlichkeit wie das Bewegen hat sich in unserer voll automatisierten Welt zu einem exotischen Projekt entwickelt, das die Menschheit in zwei Gruppen teilt. Die superaktiven absolvieren sklavisch Fitnessprogramme, mit anschließendem AminoShot. Die Hyper-Passiven beziehen das allabendliche Endlager auf der Couch. Sie betrachten die Aktiven als Sektenopfer und Bewegung als Anschlag auf die Menschenwürde. Deutschland ist geteilt in Sixpacks am oder im Bauch: Die einen laufen mindestens Marathon, die anderen lachen darüber. Bewegen ist Religion oder Inquisition. Nur normal ist sie nicht.
Das ist dumm. Denn praktisch jede Woche wird irgendwo auf der Welt eine Studie veröffentlicht, die die Heilkraft gemäßigter Bewegung preist. Ob bei Diabetes oder Depression, Herzkreislaufbeschwerden oder Übergewicht, oft lindern ein paar schnelle Schritte bereits die Symptome. Mussten Krebs-Patienten nach der Therapie früher stramm liegen, bekommen sie heute ein Sportprogramm verordnet, ebenso Burn-out-Kandidaten oder Knie-Operierte. Kinder lernen besser, wenn sie ihren Körper zu koordinieren wissen, und verhalten sich angenehmer, wenn sie die Regeln des Fairplay kennen. Ein lockeres Läufchen spricht die gleichen Hirnregionen an wie eine Meditation, hält den Handy- und Mailterror für eine Weile fern und ermöglicht einen ungestörten Plausch mit Kumpels, die man ohnehin viel zu selten sieht. Kirchen und Gewerkschaften schwächeln als Gemeinschaftsstifter, auf den deutschen Sportverein ist Verlass. Schließlich bieten WM und Olympia die letzten, großen Narrative, auf die sich eine Gesellschaft zu verständigen bereit ist. „Bewegt euch“, mag man dem Volk zurufen, „das Leben ist ein Trimm-dich-Pfad!“ Dosiertes Bewegen ist die billigste, effektivste und angenehmste Art, Körper und Seele, Familie, Mitmenschen und Gesellschaft zu pflegen, mit hohem Spaßpotenzial und natürlicher als Biokost.
Als der Mensch noch keine Rolltreppen kannte, noch nicht mal Schubkarren, da gehörte das Bewegen wie Sex, Essen, Schlafen zu den Überlebensfähigkeiten. Auf der Suche nach Futter oder auf der Flucht legte der Steinzeit- Bewohner täglich angeblich einen Marathon zurück, allerdings eher trabend. Anzunehmen, dass unsere Vorfahren die lange Zeit auf den Beinen nutzten, um zu grübeln, zu plaudern, sich zu besinnen oder einfach vor sich hin zu träumen. Bewegen ist schließlich mehr als Ertüchtigung, oftmals sinnvoll genutzte Zeit mit sich und anderen. Der Fortschritt hat nun eine dramatische Ungleichzeitigkeit erzeugt. Während die Technik ein voll automatisiertes Leben mit Kühlschrank und Rolltreppe bietet, gehorchen unsere Gene noch immer der Logik des Jagens und Sammelns und Fliehens und Ruhens. Die Fähigkeit etwa, überschüssige Nahrung in Fettdepots zu bunkern, half beim Überleben in karten Zeiten, als Kohlenhydrate Luxus bedeuteten. In der Ära des Pizza-Service hat sich diese sinnvolle Funktion zum Fluch gewandelt. Die Gene sind auf wenig Kalorien und lange Wege eingestellt. Wir leben das Gegenteil. Mag Körperunbehagen auch kein Krankheitsbild sein, so ist es gleichwohl in allen Schichten und Generationen verbreitet. Gemessen an der geäußerten Häufigkeit de Seufzers „Ich müsste mich mal wieder bewegen ...“ kann man wohl von einem nationalen Grundbedürfnis sprechen.
Eine wachsende Zahl von Stadtbewohnern immerhin nutzt das Fahrrad als ökonomischstes aller metropolitanen Fortbewegungsmittel, das vernünftiges Bewegen, ordentliches Tempo und überschaubare Kosten bei relativer Coolness bietet und zugleich Parkplatznerv erspart. Auf jedem Radweg allerdings ist auch ein Phänomen zu beobachten, das einer gesamtgesellschaftlichen Bewegungsbewegung entgegensteht: das Aufrüsten im Alltag. Erfüllte früher ein Mittelklasse-Rad der Marken „Rixe“ oder „Diamant“ den Zweck der Fortbewegung, rollt heute selbst im unteren Preissegment nichts mehr ohne Federgabeln, Satellitenortung, Sicherheits- und Gesundheitspaket aus dem Laden. Und so ist es überall in der Bewegungsindustrie. Wo einst Turnschuh und Trainingsanzug genügten, um sich ein halbes Stündchen an der frischen Luft zu tummeln, erfordert heute der Kauf des richtigen Schuhs ein abgeschlossenes Studium der Sportwissenschaft. Kaum ein Lauftreff, wo nicht über Pulswerte und Laktatkurven philosophiert würde. Banale Bewegungssimulationen wie Nordic Walking, das früher mal als „Spazierengehen“ bekannt war, brauchen mehrstufige Kurse unter Expertenaufsicht.

Niedrigschwellig ist das alles nicht. Die fortwährende Vercoachung und Verkomplizierung einfachsten Bewegens schreckt vielmehr all jene ab, die einfach mal ohne Equipment-Stress probieren möchten, ob ihnen gerade in der Midlife-Crisis Spaß bereitet, was in Kindertagen Glück brachte: ein bisschen Rennen, Klettern, Balancieren, Paddeln, Streunen - ganz ohne 1oo-Punkte-Plan und Sicherheitsbeauftragten.

Bewegen ist nicht schwer, wirklich nicht. Wandern mit Kindern ist tatsächlich möglich, ohne vorher ein Fachbuch mit Motivationstipps gelesen zu haben. Laufen geht auch unterhalb des Tempogebolzes der Bestzeitenfreaks. Und einen Paddelausflug auf dem nächstgelegenen See kann man notfalls sogar ohne Isogetränk und Energieriegel überleben. Belohnungsbier oder sonntagnachmittägliches Nickerchen zeigen ihren Zauber erst dem, der zuvor unterwegs war.
  Keine Zeit? Komischerweise findet sich für Fernsehen, Facebook und Autowaschanlage immer ein Viertelstündchen. Und das Knie, der Rücken? Ausreden. „Natürlich tut immer alles weh“, sagt Marianne Buggenhagen, Deutschlands erfolgreichste Sportlerin bei den Paralympics, „aber das geht auch wieder weg - vor allem, wenn man sich ein bisschen bewegt.“
Vom Autor gerade erschienen: „Bewegt euch! Die Glücks- Philosophie des Achim Achilles“, Verlag Ludwig

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